Newsletter Juni 24
Sexualität und Bindung -
limitierendes Erleben verstehen und überwinden
In der Paar- und Sexualberatung tragen Paare eine Bandbreite von Anliegen an mich heran.
Ziel der Sexualberatung ist, sich selbst, die eigene Sexualität und die Sexualität in der Paarbeziehung besser zu verstehen und limitierendes Erleben zu überwinden. Es geht auch darum, Leid schaffende Interaktionszyklen zwischen den Partnern nach zu verfolgen und in der Beratung einen geschützten Raum für neue Interaktionen zu bieten.
In einem ersten Schritt werden dem Paar die Bewegungen und die Positionen, die jeder Partner in der Beziehungsdynamik einnimmt, verstehbar.
Dazu ein Beispiel aus anonymisierten Beratungen zusammengefügten Elementen:
Annegret und Viktor sind ein junges Paar Anfang/ Mitte zwanzig.
Sie leben seit zwei Jahren in einer Beziehung in getrennten Wohnungen.
Beide mögen sich sehr, doch bereits nach einem halben Jahr tauchen die ersten existentiellen Beziehungsthemen auf.
Victor verbringt seit seiner Pubertät viel Zeit vor dem Computer. Seine Haupterregungsquelle ist, sich über Pornografie visuelle Stimuli zu holen und sich dann vor dem Computer sitzend zu befriedigen.
Manchmal kommt er sehr rasch zum Höhepunkt, manchmal braucht er länger und manchmal geht es nicht.
Er hat immer viel Zeit mit sich selber verbracht und sich alleine gefühlt. Als attraktiver, junger Mann fand er über das Internet immer wieder Bekanntschaften mit Frauen. Solange die Beziehung sexuell blieb, hat er sich wohl gefühlt und seine sexuelle Lust gespürt.
Doch nach kurzer Zeit verliert die Sexualität für ihn seinen Reiz, eine liebevolle Bindungsbeziehung kann er zu dem Zeitpunkt nicht eingehen. Er macht sich immer wieder auf, um eine neue Frau sexuell zu erobern.
Als Annegret Victor kennen lernt, bereitet es ihr Freude ihn sexuell zu befriedigen. Teil ihres Beziehungsmusters ist, eigene Bedürfnisse zurückzustellen und für den anderen da zu sein. Sie gibt Sex und will auch Liebe. Bald verliebt sie sich in Victor, interessiert sich für Ihn und seine Probleme im Leben. Stundenlang spricht sie mit ihm, erteilt ihm liebevoll gemeinte Ratschläge. Victor fühlt sich wohl in Annegrets Gegenwart. Er schätzt ihre emotionale Nähe, verliert jedoch wie in den anderen Frauenbeziehungen, bald seine sexuelle Lust. Er vermeidet erotisch, sinnlichen Kontakt, Kuscheln lässt er manchmal zu. Annegret leidet unter dieser Distanz.
Annegret hat Angst, den Menschen, den sie liebgewonnen hat und zu dem sie eine Bindung verspürt, zu verlieren. Sie motiviert Victor in die Paar- und Sexualberatung zu kommen.
Das Negativmuster in der Beziehung besser verstehen
Mit dem jungen Paar arbeite ich sowohl in Einzel- wie auch in Paargesprächen.
Im Paarprozess versteht jeder seine Lieblingspostionen, die eher zu mehr Distanz führen.
Victor zieht sich gerne in seine Höhle zurück («my safty spot») und pflegt aus seiner sicheren Höhle heraus oft digitale Beziehungen. (Vermeidung, Rückzug)
Annegret versucht mit ihm in Kontakt zu kommen, sie wünscht sich mehr emotionale und körperliche Nähe, gibt Ratschläge (Anklägerin, Kontakt Suchende). Sie spürt, wie sie im Laufe der Zeit immer mehr emotional ausbrennt und bedürftig wird. Sie überdeckt diese zarte, verletzliche Seite mit Fürsorge für Victor.
Die Zärtlichkeit und Sexualität, die sie sich wünscht, wird immer weniger, was dazu führt, dass sie sich noch mehr anstrengt und dass er sich noch mehr zurückzieht (Negativkreislauf). Victor verspürt seine Angst aufgefressen zu werden und Annegret spürt ihre Angst ihn zu verlieren.
In der Paarberatung lernen beide mit ihren verletzlichen Seiten, die unter ihren Schutzstrategien liegen, in Kontakt zu kommen:
Annegret: «Je mehr ich versuche für dich da zu sein, umso mehr habe ich den Eindruck, dass du Dich zurückziehst. Am Anfang unserer Beziehung warst Du wie ein Fels in der Brandung für mich. Es tut mir sehr weh, wenn du dich immer mehr zurückziehst. Ich habe Dich sehr lieb und ich habe Angst Dich zu verlieren.»
Victor: «Es berührt mich, was Du sagst. Ich möchte Dir nicht weh tun. Ich fühle mich hilflos und weiss nicht mehr wie weiter. Ich komme mir vor wie ein Versager, aber die Nähe zu Dir tut mir gut.»
Beide schauen sich in die Augen und sind sehr berührt.
In einem Prozess des empathischen, validierenden Spiegelns lernen Annegret und Victor den eigenen Anteil am Negativzyklus besser zu verstehen, die eigene Not und die des anderen wahrzunehmen und Mitgefühl dafür zu entwickeln. In kleinen Schritten geht es darum, dass jeder lernt Verantwortung für sich und seine Grenzen zu übernehmen, bevor die Kugel des unbefriedigenden Beziehungszyklus rollt.
Die Arbeit an der Sexualität
Victor nimmt durch gezielte Körperübungen wahr, wie sein sich angeeignetes Gewohnheitsmuster im Solosex, das Zusammensein im Beziehungssex limitiert. In der Einzelarbeit in der Beratung, wie auch in Übungen mit sich selbst zu Hause, liegt der Fokus auf dem Zusammenspiel von Atmung, Muskeltonus, Bewegung im Solosex und im Beziehungssex. Über das Spüren nimmt er wahr, wieviel Muskelspannung und mechanische Reibung er braucht, um sich sexuell während dem Bildkonsum zu erregen. Er spürt, wie steif und bewegungslimitiert er seinen Körper in den Übungen erlebt.
Geht er vom Porno weg (visuelle Erregung als Erregungsquelle) und möchte sich ohne das Bildmaterial aus dem Internet stimulieren, so verliert er die sexuelle Erregung.
In diesem Teufelskreis hat er weder gelernt eine sichere Verbindung zu seinem eigenen Geschlecht herzustellen, noch seine Partnerin zu erotisieren. Er erotisiert die neue erotische Eroberung. Sobald der Reiz des Neuen vorbei ist, geht er aus dem Kontakt.
Im Dazwischen zieht er sich immer wieder in seine Höhle zurück, bleibt wortkarg und geht in alte Bewältigungsmuster (z.B. Kontakt mit einer neuen Frau im Internet aufnehmen). Dass Annegret bei ihm bleibt und darum kämpft ihm nahe zu sein, ist für ihn eine neue Erfahrung.
Annegret erlebt sich zeitweise als verzweifelt. Solosex ist für sie keine Option, sie möchte ihre Sexualität mit Viktor teilen. Sie kennt ihren Körper und ihre Vaginalität über den Beziehungssex, wenig mit sich alleine. Ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und dafür einzustehen, stellt sie meist zurück. Beide sprechen wenig über ihre Sexualität, über ihre Bedürfnisse, über das was ihnen miteinander Freude bereitet oder auch nicht. Gezielte Körperübungen, die sie als Impulse in der Beratung erhalten, dienen dazu neu miteinander zu forschen, sinnlich verspielt und absichtslos.
Das Paar hat sich miteinander auf den Weg gemacht, ohne zu wissen, wohin dieser Weg sie führen wird.
Im sicheren Rahmen der Paar- und Sexualberatung lernen sie sich selber besser zu verstehen, in die Haut des anderen zu schlüpfen, sowie langsam Schritt für Schritt ihren Beziehungsprozess neu zu gestalten. Gerne begleite ich Paare darin, sich gegenseitig neue Signale zu senden, die neue und erfülltere Formen der Begegnung ermöglichen.