Newsletter November 23
Der wunde Punkt -
sein Einfluss auf die Qualität unserer Beziehungen
In Liebesbeziehungen sind wir verletzlicher und können einander, ohne dies zu beabsichtigen, durch unüberlegte Worte oder Handlungen weh tun.
Manche dieser Verletzungen sind von kurzer Dauer, wie eine Abschürfung der Haut sind sie oberflächlich, sie tun weh, aber sie verheilen wieder.
Jeder von uns hat besonders wunde Punkte, also besonders empfindliche Stellen auf seiner emotionalen Haut.
Ein wunder Punkt meint eine Überempfindlichkeit als Reaktion auf frühere Beziehungen oder auf Ereignisse in der aktuellen Beziehung.
Ein Bedürfnis wurde immer wieder vernachlässigt, ignoriert oder abgewertet. Dies löst beim Betroffenen Gefühle aus, emotional im Stich gelassen zu werden.
Werden diese wunden Punkte berührt, so verlieren Paare ihr emotionales Gleichgewicht. Ein Kreislauf der Verstrickungen (dabei berühre ich deinen wunden Punkt und du berührst meinen wunden Punkt) und Negativmuster ist aktiviert.
Oft erwarten unser Umfeld, unser Partner oder wir von uns selbst, dass wir stark und unverwundbar sein sollten. Diese Erwartungen, verbunden mit den sich angeeigneten Bewältigungsstrategien, können dazu führen, dass wir wunde Punkte verleugnen. Wir erkennen den Schmerz, die Traurigkeit und die Sehnsucht nicht an, die hinter dieser Selbstabwertung unserer Gefühle stehen. Wir geben ihnen keinen inneren Raum. So kritisieren wir diese zarten Seiten in uns, wir tun sie als schwach, wehleidig oder bedürftig ab.
Vielleicht widerstrebt es uns auch, dem Partner unsere Verletzlichkeit zu zeigen. Wir befürchten, als unattraktiv erlebt zu werden oder dem anderen eine gefährliche Waffe gegen uns in die Hand zu geben. Umgekehrt erscheint es auch nicht sehr verlockend, auf die Signale von Traurigkeit oder Frustration unseres Partners einzugehen. Gerade dann, wenn wir uns in einem Negativkreislauf gefangen erleben, tut die daraus entstehende Distanz immer mehr weh. Verzweiflung und mit der Zeit Resignation darüber, sich weder gesehen noch verstanden oder wertgeschätzt zu fühlen, machen sich breit. In dieser Situation brauchen viele Paare Unterstützung. Als Teil des Paares ist es nicht möglich, der eigene Spiegel zu sein.
Fragen im Umgang mit den wunden Punkten können sein:
1. Die wunden Punkte identifizieren.
- Kennt jeder seine eigenen wunden Punkte?
- Welche Signale reizen welchen wunden Punkt?
- Ist jeder offen für die Signale des Partners, wenn dessen wunde Punkte berührt sind?
- Schätzt jeder den anderen so ein, dass dieser seine wunden Punkte selbst kennt?
- Ist jeder bereit, sich dem Partner gegenüber verletzlich und verwundbar zu zeigen?
- Oder ist gerade nur möglich, dem anderen gegenüber das eigene reaktive oder defensive Verhalten zu zeigen?
2. Den Moment wahrnehmen, in dem der wunde Punkt berührt wird.
Es ist nicht möglich, mit dem Partner (im Bild gesprochen) in einem Beziehungstanz zu sein, ohne dass wunde Punkte berührt werden.
Das Erleben des verletzenden Momentes wird ganz unterschiedlich beschrieben:
- «Ich versteinere.»
- «Ich werde zu Eis.»
- «Ich wechsle in den Kampfmodus.»
- «Ich mache die Schotten dicht.»
- «Ich ergreife die Flucht und verstecke mich.»
Leonie berichtet: «Tom kommt von der Arbeit nach Hause, ich erzähle ihm, wie beschissen mein Tag mit den Kindern war! Seine Antwort: Die Kinder können nichts dafür. Und wieder gehe ich leer aus! Er anerkennt nicht, wie anstrengend so manche Tage mit den Kindern für mich sind. Das verletzt mich sehr.»
Leonie wechselt dann in den Kampfmodus und kritisiert Tom. Dieser ergreift die Flucht. Tom versteht die Heftigkeit von Leonies Reaktion nicht. Er ist müde von der Arbeit und scheut ihre Vorwürfe und Angriffe. Um sich vor weiteren Verletzungen zu schützen, macht er die Schotten dicht und ergreift die Flucht. Beide fühlen sich traurig, verletzt, ärgerlich und gegenseitig alleine gelassen. Wieder spüren beide die Distanz zwischen ihnen.
Diese Momente sind bedeutsam. Es geht darum, dass die Partner sich selbst und Reaktionen des anderen bewusst wahrnehmen und verstehen lernen.
Jeder erhält im geschützten Rahmen der Beratung die Möglichkeit:
- Sich seines reaktiven Verhaltens und den dahinterliegenden Gefühlen bewusst zu werden: ärgerlicher Angriff, dahinter Verzweiflung, Schmerz über die Verletzung und das Alleingelassenwerden.
- Diese Erkenntnis zu würdigen: In meinem System macht mein Erleben Sinn und sucht sich einen Weg nach aussen, bevor es mich innerlich zerreisst.
- Für die Steuerung seiner Gefühle und die dahinterliegenden Bedürfnisse Verantwortung zu übernehmen: Ich anerkenne meinen Ärger und ich agiere ihn nicht mehr aus.
- Ich verstehe mein Bedürfnis und ich drücke dieses gegenüber dem Partner verständlich aus: Es tut mir gerade weh, was Du sagst. Geht es, dass Du mich einen Moment in den Arm nimmst?
Nachdem es Leonie gelingt, Tom im geschützten Setting mitzuteilen, wie sehr sie seine Reaktion verletzt und wie sehr sie sich einen Moment von Mitgefühl von ihm wünscht, traut er sich, ihr Erleben anzuerkennen und auch für sein Bedürfnis zu sorgen. Es gelingt ihm, Leonie sein Verständnis auszudrücken. »Ich verstehe, dass das für Dich wirklich anstrengend ist mit den Jungs.» Und er nimmt sie in den Arm. «Ich brauche noch einen Moment Zeit für mich zum Ankommen und helfe Dir dann mit den Kindern!»
Können die wunden Punkte identifiziert und in einem nächsten Schritt verständnisvoll anerkannt werden, so gelingt es den beiden, einander in kleinen Schritten wieder näher zu kommen.
Gerne begleite ich Paare darin, die eigenen wunden Punkte und die des anderen zu identifizieren und sie anzuerkennen. Ziel ist, so mit den wunden Punkten umzugehen, dass die gemeinsame Begegnung in ein gegenseitiges Verstehen, in Empathie und wieder in Momente von emotionaler Nähe mündet.